Der Gegner war das (Kunst-)Establishment

 

Ein Gespräch zwischen Emmi Böck, Franz Kulinsky und Angelika Kulinsky, aufgezeichnet im Juni 2000 von Isabella Kreim (Quelle: 40 Jahre Kunstverein, Ingolstadt 2001)

Emmi Böck Sagenforscherin, Mitglied im Ingolstädter Kunstverein seit 1970, zeitweise im Vorstand.
Franz Kulinsky aktive Mitarbeit im Kunstverein Ingolstadt, vor allem in den frühen 70er Jahren, Dokumentarfilme über den Kunstverein, z. B. die ersten Filmaufnahmen mit Fassbinder und Fleißer für den vom Kunstverein angeregten Fleißer-Film.
Angelika Kulinsky Tochter des Architekten und Kunstvereinsvorsitzenden 1961-1965, Josef Elfinger.

Rote Socken?
Welchen Ruf hatte der Kunstverein Anfang der 70erJahre?
FK Er ist links eingestuft worden. Manfred (Fischer) war bekannt als der Mann mit den roten Socken.
EB ... dabei hat er nie rote Socken gehabt.
FK Doch, doch. Der hat auch rote Socken gehabt.
EB Weltanschaulich hat er (murmelt) nie welche gehabt.

Von der APO unterwandert?
FK Viele junge Leute von der APO haben sich auch im Kunstverein getroffen, weil der Kunstverein ein Treffpunkt für politische und kulturelle Kreativität geworden ist. Das hat man aber nicht unter einem parteipolitischen Aspekt gesehen, sondern eher als gesellschaftskritisches Anliegen.

War der Kunstverein die APO von Ingolstadt?
EB Nein, das war ich. (Lachen) Nein, das kann man nicht sagen, dass der Kunstverein die APO von Ingolstadt war. Ich habe mit Frau Hämer und noch ein paar Leuten ab Herbst 1967 die APO aufgebaut, und mehrere von uns waren auch im Kunstverein. Manche sind auch erst dazugekommen, vor allem die Jüngeren. Später sind manchmal auch politische Sachen im Kunstverein aufs Tapet gekommen.

Es sind nicht APO-Leute, sondern schon unser "Nachwuchs" im Kunstverein gewesen, ich sag jetzt einfach mal Namen: Eugen Wider und Christoph Markl. Man hat abgestimmt, ob man eine Ausstellung über Berliner Hausbesetzer macht ("Instandbesetzer" hat 1982 stattgefunden) und eine Fotoausstellung über Dr. Liebl als Vorsitzenden des NS-Ärztebundes und dessen "rassehygienisches" Programm. Das wäre ja auch interessant gewesen. Aber das hat der damals nicht mehr ganz so mutige Kunstverein abgelehnt gegen unsere drei Stimmen.

Farb-Happening für die Belebung des Theatervorplatzes
Gesellschaftskritische Aktionen des Kunstvereins?
FK Die spektakulärste Aktion war sicherlich die Farbaktion "KEKS" (1970).
EB (klatscht)
FK Da hat der Kunstverein in Zusammenarbeit mit Dozenten der Münchner Kunstakademie geplant, den Theatervorplatz farblich und gestalterisch zu verändern, um ein Bewusstsein für anderes, neues Sehen vorzustellen. Da sind die Pädagogen aus der Region, bis aus Schrobenhausen, mit ganzen Klassen angekommen und haben das Malen angefangen. Die Farben sind vom Kunstverein gestellt worden. Manche haben das völlig missverstanden und haben so gemalt, wie sie es in der Schule auch gemacht haben (heftiges Palaver über den Wust an Erinnerungen und (Film-) Bildern im Kopf
EB Diese Farbaktion war wunderbar. Sie war bunt. Sie hat den Theatervorplatz wirklich belebt. Da komm ich hin, und ich kenn den Platz nicht mehr. Da waren Frauen mit bunten Tüchern, so Kaftane, leuchtend gelb und orange, und da sind die Leute barfuss über den Platz, haben Häusel ghupft, haben Spiele gemacht, mit der Polizei und alles, auch so eine kleine Verbrüderung. Aber vor allem: Man hat gemerkt, dieser Platz kann leben. Es war wunderbar. Und das ist ja dann filmisch dokumentiert worden vom Franz Kulinsky.
Wie hat die Bevölkerung darauf reagiert?
FK Ich habe das so empfunden, dass die Leut dem Spektakel ganz belustigt zugeschaut haben oder neugierig waren. Da war eigentlich keine Kritik da, vielleicht hat ein Einzelner es als Schmiererei betrachtet. Das war eine Art Happening, das einfach Spaß gemacht hat, ein Gewurl von Menschen, Kisten, Farben, Materialien. Am Abend sind dann aus Seidenpapier improvisierte Heißluftballons aufgestiegen, es ist auch rezitiert worden, irgendwas, was gerade im Theater auf der Bühne gelaufen ist. Dann sind am Abend die Theaterbesucher in ihren festlichen Roben durch das Ganze durchgegangen. Ich glaube, dass das gar nicht politisch gesehen worden ist, und das war auch gar nicht der Sinn der Sache. Es sollte einfach Spaß machen, und so haben es die meisten auch verstanden. Nur was die meisten nicht mehr wissen: dass wir vom Kunstverein verpflichtet waren, den Theaterplatz bis zum nächsten Morgen in der Früh tipptopp-sauber, also in seinem Betongrau zu hinterlassen. Und da hats natürlich auch Verfehlungen gegeben. Insofern, als vorher klar gesagt worden war, dass die Theaterwände in keinem Fall bemalt werden dürfen, sondern nur die Platzflächen und nur mit abwaschbaren Farben. Wir haben also bis fast am anderen Tag in der Früh Schutt weggefahren und geschrubbt. Es ist geschafft worden, dass auch von Seiten der Stadt am anderen Tag diesbezüglich keine Kritik kommen konnte. Insofern ist dieses ganze Erlebnis auch wohlgefällig aufgenommen worden.

Jugendgefährdend?
EB Die Jungen sind uns zugeströmt. Der Kunstverein war ein lebendiger Treffpunkt, gerade für die jungen Leut. Und da ist auch ein junges Mädchen beigetreten, die war allerdings erst 14 oder 15. Da gab es einen Riesenkrach mit der Stadt, das war die Tochter von einem hohen Stadtbeamten, die musste wieder austreten. Für mich war es schlimm, dass ein paar Leute, die offenbar durch die Monopolzeitung "infiziert' waren, über mich gesagt haben, ja die, das Flintenweib vom Kunstverein. Verstehst, wir haben doch nie was gmacht. Wir waren Heilige, eigentlich: Der Kripo-Kommissar i.R. Hans Mayer, der damals die Aktivitäten der APO und wohl auch manchmal vom Kunstverein überwachen hat müssen, mit ihm bin ich heut befreundet, bedauert immer, wenn er mich trifft, dass es "uns" nicht mehr gibt, weil wir so fair waren.

Super(markt-) Ausstellungen
EB Es war halt ein bisschen ungewohnt für die Leute, auch die Ausstellungen, die wir nach Ingolstadt geholt haben. Das war damals in Deutschland schon absolute Spitze. Tafelmaier, der beste Graphiker damals, Janssen, Palm ...
FK Ich glaube, dass der Kunstverein Ingolstadt Ende der 60er Jahre an einem Wendepunkt gestanden hat, der sich gesellschaftlich überall abgezeichnet hat. Der große Slogan war, Kunst muss von allen gemacht werden. Die Kunst hat überall, auch an den Hochschulen, nach neuen Wegen gesucht. Und der Kunstverein Ingolstadt wollte dabei mitwirken. Er wollte sich von der konservativen Ausstellungskunst, der Betrachtungskunst entfernen und mehr mit Kunst aktiv ins Leben eingreifen. Und das empfinden viele Leute, die Kunst nur im Museum sehen wollen, als links.
EB Aber manche hats fasziniert. Z.B. mein Vater, ein einfacher Mann, ein Schlosser, der ist mit mir in die "Supermarkt'-Ausstellung ("Das Kaufhaus als Paradies", 1973) gegangen, die ja für mich eine der schönsten war. Und der hats kapiert, der hats glei besser kapiert wie ich. Dass da z.B. eine Zigarettenschachtel war, wunderbar, silber, und daneben irgendein greislicher Babberdeckel. Und da stand beim silbernen ein paar Mark mehr als Preis, obwohl natürlich dasselbe drin war. Mein Vater hat das kapiert. AK Mein Vater (der frühere Kunstvereins-Vorsitzende Elfinger, Anm. d. Red.) war da offen eingestellt. Er hat sich auch stark für den Theaterneubau eingesetzt und für den Hämer gekämpft und ihn verteidigt. Seine Leserbriefe habe ich noch.

Leitfigur Hämer
AK Die Person Hämer hat viele neue Impulse nach Ingolstadt gebracht. Angegangen ist es mit der Dutschke-Demo.
EB Da haben halt der Hämer und der Scheringer in der Werkstattbühne geredet. Dabei war das ja überhaupt nicht ... Der Hämer war so wichtig, weil er Mut hat und konsequent ist. Der fällt nicht um.
FK Ingolstadt war bis dahin Provinz. Hämer hat aufgrund seiner Großstadterfahrung in der Architektur und später als Professor in Berlin einen ganz anderen Erlebnisbereich nach Ingolstadt getragen.
EB In Ingolstadt hat man ihm schwer zugesetzt. Er hat mehrere Aufträge verloren
FK Wir waren in Ingolstadt dafür dankbar, dass er in den provinziellen Mief was anderes reingetragen hat.

Marieluise Fleißer und der Kunstverein
EB Die Fleißer hat auch gegen die Notstandsgesetze unterschrieben. Es hat ihr gut getan, Anschluss an die jungen Leute zu finden, unter Leuten zu sein, die im Aufbruch waren.
FK Sie hat Bezugspersonen gesucht, die ihr wieder ihren Auftritt in die Öffentlichkeit ermöglicht haben. Von sich aus hat sie sich das gar nicht mehr getraut. Die Leute vom Kunstverein haben sie ein bisschen gestoßen, aber gutmütig gestoßen.
EB Es hat ihr gut getan, bei einem Glas Wein zusammenzusitzen, es waren ja auch Leute dabei, die a bisserl Geist gehabt haben.
FK Man könnte a bisserl pathetisch sagen, sie war eine Frau, die für die Freiheit der Kunst war.

Forum für die Jugend
FK Ich kann mich an Musikveranstaltungen erinnern, die für Ingolstadt erstmalig im Kunstverein stattgefunden haben, Amon Düül 11 (1970) oder eine Schweizer Rockgruppe. Und wenn man dann in den Ausstellungsraum kam, da waren so 100 oder 150 Leut, die sind ganz leger am Boden gelegen und haben sich die Musik reingezogen. Das war eine ganz lässige Atmosphäre. Was hat der Kunstverein für die Stadt gebracht?
EB Er hat auf jeden Fall den Namen der Stadt über Ingolstadt hinausgetragen. Das war vielleicht für die Stadt nicht gleich so angenehm. Eine andere Stadt plagt sich ab, und wir waren laufend im Fernsehen und in den Zeitungen aufgrund unserer Ausstellungen.
AK Und für Jugendliche hat der Kunstverein eben ein bestimmtes Forum dargestellt, wo man sich betätigen konnte, wo man verstanden wurde.
EB Die wollten schon die Wahrheit wissen. Wissen, was dahintersteckt. Es hat auch Vorbildcharakter gehabt. Wir haben mal Schülerarbeiten ausgestellt. Und eine war so schön, und der Bua war noch schöner. Der war vielleicht 10 und der ist im Kunstverein groß geworden. Heute ist er ein namhafter Restaurator in München.
FK Wie sich die politischen Vereinigungen, wie die APO, gegen das Establishment gewendet haben, hat sich der Kunstverein gegen das Kunst-Establishment gerichtet. Und dadurch haben sich die beiden Gruppierungen getroffen. Der Gegner war das Establishment.
EB Blieben ist nicht viel - außer dem Stadttheater. Einige Leute sind kritischer geworden, ganz wenige trauen sich auch was ...