Liebe 5b!

Nach einem Besuch in der Grundschule Kipfenberg im Frühjahr 1984 schrieb Emmi Böck an die dortige Klasse 5b. Der kurze Brief gibt sehr gut Auskunft über ihren Qualitätsanspruch beim Sagensammeln. Wir veröffentlichen ihn in Auszügen.

 

Über Euren Brief vom 27.3.1984 hab ich mich recht gefreut und dank Euch herzlich dafür.

Es ist natürlich klar, daß man bei einem - auch noch so dicken - Sagenbuch nicht alle Sagen aufnehmen kann. Man muß ja - ich jedenfalls tu das - auch Rücksicht auf die Qualität nehmen; denn da gibt es oft Texte, die als Sagen gelten, aber ein rechter "Schmarrn" sind, von irgendeinem zusammengefankert. Sowas laß ich natürlich weg. (Euer Beitrag "Das verfluchte Dorf" gehört in diese Reihe. Er ist mir arg verdächtig!).

Der übrige Dorftratz
Sodann nehm ich auch keine Dorfspitznamen in meinen Sagenbüchern auf; die Spitznamen und den übrigen Dorftratz will ich einmal extra herausbringen. Deshalb habt Ihr also "Die Köschinger Mantelflicker" und "Die Berchinger Hechte" sowie die Stammhamer "Hämas morgn!" und auch das Geschichterl "Appertshofener Heuwetter" in meinen Sagenbüchern vermisst (übrigens bezieht sich dieser Spitznamen richtigerweise auf Appetshofen im Ries, und ist halt dann von einem, der es nicht so gut wußte, fälschlicherweise auf unser Appertshofen übertragen worden).

Was die Legende/Sage vom Schambacher Kelch angeht, so steht sie schon in einem meiner Bücher, und zwar in dem aus Eichstätt und dem Umland (Nr. 237). Bei so einer Veröffentlichung stößt man oft auf unzählige Fassungen einer bestimmten Sage; da muß ich mich dann für die beste und oft auch älteste - weil die die echteste ist - entscheiden.

Zurück zu den Quellen
Man muß immer möglichst zu den literarischen Quellen zurückgehen, d. h. dorthin, wo die Sage zum ersten Mal erscheint, denn da ist sie noch unverfälscht und keiner hat noch daran herumgepfuscht. Wißt Ihr, da gibt es Leute - Lehrer sind auch nicht wenige darunter -, die gern ihre Fassung gedruckt sehen und die dann hergehen und das, was ursprünglich vorlag, "überarbeiten" und oft wie eine kleine Geschichte herausputzen.

Das soll man aber nicht: Sagen sind ganz karge sprachliche Gebilde, zu denen paßt so ein Aufputz gar nicht; und es geht auch um die Treue: wenn mir mal ein alter Mann oder eine alte Frau eine Sage erzählt, dann darf ich nicht hergehen und die dann anders bringen. Das bin ich diesen meinen Gewährsleuten schuldig. Echtheit ist das oberste Gebot, und um Gotteswillen ja nichts aufputzen.

Fragt Eure Großeltern
Das schreib ich Euch, weil ich hoffe, daß Ihr mal Eure Großeltern oder andere Leute (speziell ältere, ganz alte) fragt nach Sagen, die noch nirgends niedergeschrieben sind und die diese Leute vielleicht (glauben) selbst erlebt (zu) haben. Wenn ich sowas bekäme, das echt ist und unverfälscht, das würd ich schon mal in einem meiner Bücher unterbringen.

Noch eine Bitte: laßt Euch von Eurem Lehrer / Eurer Lehrerin einmal den Unterschied erklären zwischen Sagen und Legenden und auch das, was ein Dorftratz (Ortsneck, Spitznamen...) ist.

Daß Ihr mir geschrieben habt, find ich ehrlich super. Wenn Ihr spezielle Fragen habt, Ihr könnt mir immer schreiben. Übrigens steht im Lesebuch für bayer. Grundschulen ("Lesespaß 4", Westermann-Verlag) auf S. 172 ff. noch mehr über Sagen. Das hab ich für die Schüler der 4. Klassen niedergeschrieben.

Nochmals meinen besten Dank, Eure

 

Vielen Dank!
Brief und Fotos auf dieser Seite stammen aus zwei verschiedenen Schulprojekten mit Emmi Böck in den 1980-er Jahren. Wir danken Gertrud Böhm (damals Volksschule Kipfenberg) und Monika Meider (damals Hauptschule auf der Schanz, Ingolstadt) für das zur Verfügung gestellte Bild- und Textmaterial.